Unveränderter Text aus Heft 3, 2006
Aktuelle Ergänzungen am Ende des Textes
Tigecyclin (TYGACIL) ist das erste therapeutisch verfügbare Antibiotikum aus der Gruppe der Glycylcycline. Dabei handelt es sich um Tetracyclinderivate, die chemisch so verändert wurden, dass sie
auch gegen Tetracyclin-resistente Stämme wirken. Die Wirkung gegen resistente Bakterien ist unabhängig davon, ob die Erreger durch Veränderungen am Ribosom [Tet(M)] oder durch Effluxmechanismen
[Tet(A-E)] ihre Resistenz erworben haben. Die Strukturformel von Tigecyclin besitzt große Ähnlichkeit mit der von Minocyclin (KLINOMYCIN u.a.), hinsichtlich des antimikrobiellen Spektrums und der
therapeutischen Eigenschaften bestehen allerdings erhebliche Unterschiede.[1]
Ähnlich wie die Tetracycline hemmt auch Tigecyclin die bakterielle Proteinbiosynthese durch Anlagerung an die 30S-Untereinheit der Ribosomen. Damit wird die Anlagerung von Aminoacyl-t-RNA Molekülen
an die Ribosomen blockiert und die Verlängerung der wachsenden Proteinkette verhindert. Allerdings binden Glycylcycline mit etwa fünffach höherer Affinität als Tetracycline und können daher auch
gegen Tetracyclin-resistente Bakterien wirken.
Tigecyclin wirkt gegen ein breites Spektrum von grampositiven und gramnegativen Erregern. Überwiegend wirkt die Substanz bakteriostatisch, bei manchen Erregern, wie zum Beispiel S. pneumoniae und H.
influenzae, wurden auch bakterizide Effekte beobachtet. Ein postantibiotischer Effekt von etwa drei Stunden konnte nachgewiesen werden. Zum Spektrum gehören auch Staphylokokken, die gegen Oxacillin
(INFECTOSTAPH) oder Methicillin resistent sind (MRSA). Die minimale Hemmkonzentration gegen diese Erreger lag bei 0,25 bis 0,5 mg/l (MHK90-Wert). Auch gegen Vancomycin (VANCOMYCIN u.a.)-resistente E.
faecalis-Stämme (VRE) besteht eine ähnlich hohe Aktivität. [1,2]
MHK-Werte von 0,5 mg/l oder weniger wurden auch bei E. coli-Stämmen ermittelt. Sie waren unabhängig davon, ob die Erreger ß-Laktamasen (sog. ESBL, extended spectrum ß-lactamases) bildeten oder nicht.
Das Antibiotikum besitzt eine Aktivität auch gegen Acinetobacter spp. (MHK90: 2 mg/l), ist aber weniger wirksam gegen Proteus-Arten und weist keine ausreichende Aktivität gegen Pseudomonas aeruginosa
auf. Gramnegative Bakterien, die bestimmte Effluxsysteme (MexXY, AcrAB) überexprimieren, zeigen eine reduzierte Empfind-lichkeit oder Resistenz.
Gegen therapeutisch wichtige Anaerobier, wie Clostridium- oder Bacteroides-Arten besteht eine ausreichende Aktivität. Die zur Hemmung von Bacteroides fragilis notwendigen Konzentrationen sind
variabel (MHK90 Werte zwischen 0,25 bis 16 mg/l). [1]
Tigecyclin wird als Infusion verabreicht; die empfohlene Dosierung beträgt 50 mg alle 12 Stunden, wobei initial einmalig die doppelte Dosis gegeben wird. Ein „steady state“ wird unter diesen
Bedingungen nach drei bis vier Tagen erreicht. Die Spitzenkonzentrationen im Plasma liegen bei 0,6 mg/l, in verschiedenen Studien wurden AUC-Werte von etwa 3 mg/l x h bzw. 4,7 mg/l x h errechnet. [2]
Die Gewebegängigkeit des Antibiotikums ist gut, das scheinbare Verteilungsvolumen liegt bei 600 Litern, etwa 70 bis 90% der Substanz ist konzentrationsabhängig in vitro an Plasmaproteine gebunden. In
neutrophilen Granulozyten reichert sich Tigecyclin an, die intrazellulären Konzentrationen sind etwa 20- bis 30-fach höher als in der extrazellulären Flüssigkeit. [3]
Die Elimination erfolgt überwiegend unverändert mit dem Stuhl. Im Urin wurden 32% nachgewiesen. Geringe Anteile einer Dosis werden zum Glukuronid und in andere Metaboliten umgewandelt. Die
Eliminationshalbwertzeit beträgt 42 Stunden. Die Ausscheidung war bei Patienten mit erheblicher Einschränkung der Nierenfunktion oder Patienten mit Hämodialyse nicht signifikant verändert. Eine
Beeinträchtigung der Leberfunktion führt dagegen zu einer verzögerten Elimination von Tigecyclin. Die Halbwertzeit war um 23% (Child Pugh B) bzw. 43% (Child Pugh C) verlängert. [4]
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Tigecyclin bei komplizierten Hautinfektionen und intraabdominellen Infektionen wurde in jeweils zwei umfangreichen Phase III-Studien im Doppelblinddesign
überprüft, die in ausführlicher Form veröffentlicht wurden. Für jede der beiden Indikationen wurde zusätzlich eine gemeinsame Auswertung der Daten vorgenommen, die in zwei weiteren Arbeiten
publiziert wurden.5,6 Bei komplizierten Hautinfektionen (z. B. Cellulitis, Abszess etc.) wurde in der Vergleichsgruppe eine Kombination aus Vancomycin (1,0 g i.v.) und Aztreonam (AZACTAM u.a.) in
einer Dosierung von 2,0 g i.v. eingesetzt. Die häufigsten Erreger waren Methicillin-sensible und Methicillin-resistente Staphylokokken, sowie E. coli. Die Daten von mehr als 800 Patienten waren
klinisch beurteilbar. Nach klinischen und mikrobiologischen Kriterien bestand kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Die antibiotische Therapie war bei 86,5% (Tigecyclin) bzw.
88,6% (Vergleichs-gruppe) der Patienten erfolgreich. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Behandlungs-gruppen hinsichtlich der Eradikation der Erreger. [5]
Bei Patienten mit komplizierten intraabdominellen Infektionen wurde die Therapie im Vergleich zu Imipenem (ZIENAM) durchgeführt.[6] Die häufigsten Diagnosen bei insgesamt 1642 Patienten waren
komplizierte Appendizitis, Cholezystitis oder intraabdomineller Abszess, die am häufigsten isolierten Erreger waren E. coli und Klebsiella spp.. Auch bei diesen Indikationen bestand kein Unterschied
zwischen den beiden Behandlungsgruppen. Die Therapie war erfolgreich bei 80,2% (Tigecyclin) bzw. 81,5% (Imipenem), der Erreger wurde in beiden Gruppen bei 86% der beurteilbaren Patienten
eradiziert.
Die Therapie wurde in allen Gruppen etwa gleich häufig aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen. Tigecyclin verursachte häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen als die zum Vergleich angewandten
Antibiotika. Bei den Patienten mit abdominellen Infektionen war Übelkeit signifikant häufiger als in der Vergleichsgruppe (24,4% vs. 19,0%), noch deutlicher war der Unterschied bei Patienten mit
Hautinfektionen. Zum Erbrechen kam es bei 19% (Tigecyclin), 14% (Imipenem) und 3,6% (Vancomycin / Aztreonam) der Patienten in den Phase III-Studien. Unter Vancomycin / Aztreonam wurde dagegen
häufiger ein Anstieg der Transaminasen beobachtet, und auch Hautreaktionen waren signifikant häufiger als unter Tigecyclin (19,3% vs. 10,6%).
In vitro-Untersuchungen mit Lebermikrosomen vom Menschen deuten darauf hin, dass Interaktionen mit anderen Arzneistoffen, die über Cytochrom P450-abhängige Monooxygenasen metabolisiert werden, nicht
zu erwarten sind. Bei gleichzeitiger Gabe von Tigecyclin und Warfarin (COUMADIN) waren die Plasmakonzentrationen von R- und S-Warfarin (AUC-Werte) um 68% bzw. 29% erhöht. Obwohl keine direkte
Auswirkung auf die Blutgerinnung beobachtet wurde, wird zu einer Überprüfung der INR bei gleichzeitiger Gabe geraten. [4]
Tigecyclin (TYGACIL) ist ein neues Antibiotikum zur parenteralen antibakteriellen Therapie. Es handelt sich um den ersten Vertreter der Glycylcycline, die in Struktur und Wirkungsmechanismus
Ähnlichkeiten mit Tetracyclinen aufweisen. Tigecyclin wirkt gegen grampositive und gramnegative Erreger, einschließlich solcher Stämme die gegen Tetrazykline oder andere Antibiotika resistent sind
(u.a. MRSA, VRE und ESBL-produzierende Bakterien). Es wird als Kurzinfusion verabreicht und überwiegend unverändert mit dem Stuhl ausgeschieden. Die Gewebegängigkeit ist gut und das
Verteilungsvolumen hoch. Die Halbwertzeit liegt bei etwa 40 Stunden. Die übliche Dosis beträgt zweimal täglich 50 mg nach einer einmaligen initialen Dosis von 100 mg. Bei komplizierten
Hautinfektionen und intraabdominellen Infektionen erwies sich Tigecyclin in umfangreichen Doppelblindstudien als ebenso wirksam, wie die zum Vergleich eingesetzten Antibiotika. Bei Hautinfektionen
war dies eine Kombination aus Vancomycin (VANCOMYCIN u.a.) und Aztreonam (AZACTAM), bei Patienten mit intraabdominellen Infektionen wurde zum Vergleich Imipenem (ZIENAM) angewandt. Tigecyclin
verursachte signifikant häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen als die anderen Antibiotika, Hautreaktionen traten dagegen seltener als in den Vergleichsgruppen auf. Die Substanz stellt eine
wesentliche Bereicherung der therapeutischen Optionen vor allem bei Wundinfektionen nach intraabdominellen Eingriffen dar, bei denen sowohl mit MRSA (Methicillin-resistenten S. aureus) Stämmen
gerechnet werden muss, als auch mit Enterobakterien. Als eine sinnvolle Alternative ist es auch bei komplizierten bakteriellen Hautinfektionen anzusehen, insbesondere wenn eine Allergie gegen andere
Antibiotika bekannt ist.
1. FRAMPTON, J.E., CURRAN,
M.P. Tigecycline.
Drugs 2005; 65:
2623 - 2635
2. LIVERMORE, D.M. Tigecycline: what is it, and where should it
be used? J Antimicrob
Chemother 2005; 56: 611 - 614
3. ONG, C.T. et al. Penetration, efflux and intracellular activity of tigecycline in human polymorphonuclear neutrophils (PMNs). J Antimicrob Chemother 2005; 56: 498 - 501
4. NN. Tygacil, Prescribing Information, Wyeth Pharm. Inc.
5. ELLIS-GROSSE, E.J. et al. The efficacy and safety of tigecycline in the treatment of skin and skin-structure infections: results of 2 double-blind phase 3 comparison studies with vancomycin-aztreonam. Clin Inf Dis 2005; 41 (Suppl. 5): S341 – S353
6. BABINCHAK, T. et al. The efficacy and safety of tigecycline for the treatment of complicated intra-abdominal infections: analysis of pooled clinical trial data. Clin Inf Dis 2005; 41 (Suppl. 5): S354 – S367
Ergänzung 2006
Tigecyclin zur Therapie einer Infektion mit A. baumannii
Unveränderter Text aus Heft 3, 2006
Acinetobacter baumannii ist ein gramnegatives Bakterium, das bei hospitalisierten Patienten schwer behandelbare Infektionen verursachen kann. Viele Stämme verhalten sich gegenüber fast allen
Antibiotika, einschließlich der Carbapeneme, resistent. Oftmals muss auf das Antibiotikum Colistin (in Deutschland nicht im Handel) zurückgegriffen werden, das aus Verträglichkeitsgründen nicht mehr
üblich ist (vgl. Colistin). Unter den neueren Antibiotika weist nur Tigecyclin (TYGACIL) eine relevante Aktivität gegenüber A. baumannii auf. In Spanien wurde bei 49 Stämmen dieses Erregers eine
MHK90 (minimale Hemmkonzentration für mindestens 90% der Stämme) von 2 mg/l ermittelt, der entsprechende Wert für Imipenem (ZIENAM) lag bei 128 mg/l. [1]
Da umfangreiche Studien zur möglichen Wirksamkeit des neuen Antibiotikums bei Infektionen mit diesem Erreger zur Zeit nicht vorliegen, kommt einzelnen Fallberichten eine Bedeutung zu. Infektiologen
aus Belgien publizierten den Fall eines 25-jährigen Mannes der nach einem Autounfall als Folge des erlittenen Traumas eine schwere bakterielle Pankreatitis entwickelte. Eine genaue mikrobiologische
Diagnostik des isolierten Erregers zeigte, dass es sich um einen multiresistenten Stamm von A. baumannii handelte. Trotz chirurgischer Intervention, hochdosierter Behandlung mit Meropenem (MERONEM)
und der zusätzlichen Gabe von Colistin zeigte sich auch nach mehreren Tagen keine klinische Besserung. Als einziges Antibiotikum neben Colistin (MHK: 1 mg/l) zeigte Tigecyclin mit einem MHK-Wert von
2 mg/l eine ausreichende Aktivität gegen das Bakterium. Vier Tage nachdem Tigecyclin als weiteres Antibiotikum zusätzlich verabreicht wurde, besserte sich der Zustand des Patienten. Nach etwa sechs
Wochen konnte er aus dem Krankenhaus entlassen werden. Obwohl ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der klinischen Besserung und dem Beginn der Tigecyclin-Therapie besteht, muss auch in Erwägung
gezogen werden, dass der therapeutische Erfolg unter der Kombination von drei Antibiotika erzielt wurde. Trotz initialer Gabe von Meropenem und Colistin besserte sich der septische Schock des
Patienten aber erst nach zusätzlicher Gabe von Tigecyclin.
FOLGERUNG DER AUTOREN
Bei der Behandlung einer schweren bakteriellen Pankreatitis durch einen multiresistenten Stamm von A. baumannii zeigte sich ein therapeutischer Erfolg erst als Tigecyclin (TYGACIL) zu der Therapie
mit Meropenem (MERONEM) und Colistin (in Deutschland nicht im Handel) als Ergänzung hinzugefügt wurde. Umfassendere Untersuchungen müssen zeigen, ob dieser Fallbericht eine generelle Aussagekraft für
die Therapie von Infektionen durch A. baumannii besitzt oder nicht. Angesichts der wenigen Therapieoptionen kann bei derartigen Infektionen jedoch Tigecyclin zur Therapie durchaus in Erwägung gezogen
werden.
1. PACHON-IBANEZ, M. E. et al
.Activity of tigecycline
(GAR-936) against Acinetobacter baumannii strains, including those resistant to imipenem.
Antimicrob Agents Chemother 2004; 48: 4479 – 4481
2. TACCONE, F.S. et al.
Successful treatment of septic
shock due to pan-resistant Acinetobacter baumannii using combined antimicrobial therapy
including tigecycline. Eur J
Clin Microbiol Infect Dis 2006; 25: 257-260.
Ergänzung (September 2008)
Seit der Erstellung und Veröffentlichung dieses Artikels in der Zeitschrift für Chemotherapie (Heft 3, 2006) sind zahlreiche weitere Arbeiten über Tigecyclin publiziert worden. Insbesondere soll
an dieser Stelle auf die folgenden Arbeiten hingewiesen werden:
1. KARAGEORGOPOULOS DE, KELESIDIS T et al. Tigecycline for the treatment of multidrug-resistant (including carbapenem-resistant) Acinetobacter infections: a
review of the scientific evidence. J Antimicrob Chemother. 2008; 62: 45-55.
2. VOUILLAMOZ J, MOREILLON P et al. In vitro activities of tigecycline combined with other
antimicrobials against multiresistant gram-positive and
gram-negative pathogens.
J Antimicrob Chemother. 2008;61:371-4.
3. PELEG AY, ADAMS J et al. Tigecycline Efflux as a Mechanism for Nonsusceptibility in Acinetobacter baumannii. Antimicrob Agents Chemother. 2007 Jun;51(6):2065-9.
Ergänzung (März 2011)
Ergänzung (2019)
Leitlinie zur Therapie mit parenteralen Antibiotika
Auf die ausführliche PEG S2k Leitlinie (AWMF-Registernummer 082-006) der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie e.v. (PEG) Kalkulierte parenterale Initialtherapie bakterieller Erkrankungen bei Erwachsenen – update 2018 (2. aktualisierte Version; 25. Juli 2019) sei an dieser Stelle hingewiesen.
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