Unveränderter Text aus ZCT Heft 4, 1984
Ergänzungen am Ende des Textes
WIEDEREINFÜHRUNG 2019 (s. u.)
Oft ist die Verwirrung beklagt worden, die für den Kliniker durch die stürmische Entwicklung auf dem Gebiet der ß-Lactam-Antibiotika entsteht. Zumindest in einer Beziehung trägt der rasche
Fortschritt bei diesen Substanzen jedoch auch zur Klärung der Situation bei: Struktur-Wirkungsbeziehungen werden immer klarer erkennbar - "maßgeschneiderte" Penicilline und Cephalosporine scheinen in
greifbare Nähe gerückt zu sein.
Mikrobiologie
Temocillin (TEMOPEN) besitzt chemisch eine große Ähnlichkeit mit Ticarcillin (AERUGIPEN). Beide Präparate haben ihren Wirkungsschwerpunkt im gramnegativen Bereich. Das neue Derivat unterscheidet sich
durch eine 6-Methoxygruppe vom alten und gewinnt dadurch ein hohes Maß an Stabilität gegenüber ß-Lactamasen aus gramnegativen Erregern. Dieses Strukturmerkmal ist bereits von anderen
ß-Lactam-Antibiotika bekannt - etwa von Cefoxitin (MEFOXITIN) und Latamoxef (MOXALACTAM u.a.) - unter den Penicillinen war jedoch bisher noch kein Methoxyderivat auf dem Markt. Diese funktionelle
Gruppe verleiht dem Temocillin eine hohe Aktivität gegenüber gramnegativen "Problemkeimen" wie z.B. Citrobacter, Klebsiella und indolpositiven Proteus. Die Empfindlichkeit von Serratia spp. ist
unterschiedlich. Auch häufigere Keime wie z.B. E. coli sprechen gut auf das neue Antibiotikum an - allerdings bestehen hier keine so klaren Vorteile gegenüber anderen Penicillinen mit hoher
Wirksamkeit im gramnegativen Bereich. Im Vergleich mit neueren Cephalosporinen ist Temocillin bei Enterobakterien meist deutlich weniger wirksam. Trotz der hohen strukturellen Verwandtschaft mit
Ticarcillin ist Temocillin gegenüber Pseudomonas aeruginosa inaktiv. Auch Staphylokokken, Streptokokken und anaerobe Erreger wie Bacteroides fragilis sind resistent. Diese Wirkungslücken scheinen
durch eine mangelnde Penetrationsfähigkeit des Moleküls durch die bakterielle Zellwand bedingt zu sein.1
Pharmakokinetik
Temocillin unterscheidet sich in seinem pharmakokinetischen Verhalten von allen bisher üblichen Penicillinen. Es wird nach parenteraler Verabreichung nur verzögert ausgeschieden und führt zu hohen,
lang anhaltenden Serumspiegeln. Die Eliminationshalbwertzeit liegt bei 5 Stunden.2 Die
Plasmaeiweißbindung beträgt 85%. Temocillin wird fast ausschließlich über die Niere ausgeschieden. Etwa 70% einer Dosis können im Verlauf von 24 Stunden unverändert im Urin nachgewiesen werden. Etwa
ein Zehntel wird unverändert oder metabolisiert über die Galle ausgeschieden. Bei eingeschränkter Nierenfunktion muß die Dosierung angepaßt werden: bei einer Inulin-Clearance von weniger als 10
ml/min, bzw. einem Plasma-Kreatinin von mehr als 5,2 mg/dl sollten nicht mehr als 0,5 bis 1,0 g pro 24 Stunden injiziert werden.3
Klinik
Das Hauptanwendungsgebiet für das neue ß-Lactamase-feste Penicillin werden Atemwegs- und Harnwegsinfektionen mit "Problemkeimen" sein, die auf andere länger bekannte Penicilline nicht ansprechen. In
einer Dosierung von 0,5 bis 1,0 g zweimal täglich erwies sich Temocillin bei diesen Indikationen als wirksam. Klinische Vergleichsuntersuchungen mit Standardpräparaten liegen z.Zt. noch nicht vor, so
daß sich momentan auch noch keine eindeutigen Anwendungsempfehlungen formulieren lassen. Die Verträglichkeit war gut. Nach Angaben des Herstellers wurden nur bei sieben von etwa 400 Patienten
Unverträglichkeitsreaktionen wie Erbrechen, Diarrhö, Urticaria oder Rash beobachtet. Häufiger wurde nach intramuskulärer Gabe über Schmerzen an der Injektionsstelle geklagt.
ZUSAMMENFASSUNG
Temocillin (TEMOPEN) ist ein ß-Lactamase-festes Penicillinderivat mit Vorteilen auf mikrobiologischem und pharmakokinetischem Gebiet: es ist besonders bei resistenten Enterobakterien wirksam und hat
darüber hinaus eine relativ lange Halbwertzeit von etwa 5 Stunden. Einige wichtige Erreger sprechen jedoch nicht auf die Substanz an: Staphylokokken, Streptokokken, Pseudomonas aeruginosa und einige
andere sind resistent. Es ist zur Zeit noch nicht klar ersichtlich, bei welchen Erkrankungen das Präparat bevorzugt eingesetzt werden sollte. Nosokomale Atemwegs- und Harnwegsinfektionen durch
nachgewiesene Temocillin-sensible Bakterien kommen am ehesten in Betracht.
3. Temopen-Einführungsbroschüre, Beecham-Wülfing, Neuss
Ergänzungen (November 2000)
Temocillin hat sich als entbehrlich erwiesen. Andere Penicilline, wie Piperacillin (auch in Kombination mit Tazobactam) oder Cephalosporine werden statt dessen angewandt. Es ist in Deutschland heute
nicht mehr im Handel.
Ergänzungen (November 2019)
WIEDEREINFÜHRUNG (Infektio Aktuell)
Temocillin ist in Deutschland und anderen europäischen Ländern seit Anfang Oktober 2019 wieder zugelassen. Es wird von der Firma Eumedica Pharmaceuticals vertrieben. Eine aktuelle Bewertung der pharmakologischen Eigenschaften des Antibiotikums wurde von Alexandre und Fantin 2018 veröffentlicht.1 Umfangreiche klinische Studien, wie sie heute mit neu entwickelten Antibiotika durchgeführt werden, liegen nicht vor.
Ergänzung (Februar 2020)
WIEDEREINFÜHRUNG (Text aus Heft 1, 2020)
Temocillin in Deutschland wieder verfügbar
Angesichts der zunehmenden, teilweise bedrohlichen Resistenzentwicklung bei gramnegativen Bakterien und des gleichzeitigen Mangels an neuen Antibiotika kommt es zu einer Renaissance „alter Antibiotika.“ Aus heutiger Sicht können sie wieder von Interesse sein, jedoch gibt es im Vergleich zu neu entwickelten Arzneimitteln deutlich geringere Kenntnisse zur antibakteriellen Aktivität, Pharmakokinetik und klinischen Wirksamkeit. Eine umfangreiche klinische Prüfung erfolgte früher nicht, so dass im Gegensatz zu aktuell entwickelten Wirkstoffen Daten aus vergleichenden Doppelblindstudien und fundierte Verträglichkeitsdaten fehlen (siehe Übersicht in Heft 6, 2015, PDF-Datei).
Strukturformeln von Ticarcillin und Temocillin. Der einzige Unterschied besteht in der Methoxygruppe (rot), sie verleiht dem Molekül Stabilität gegen ß-Laktamasen aus gramnegativen Erregern.
Temocillin (TEMOPEN) wurde bereits in den 1980er Jahren in den Handel gebracht, einige Jahre später wurde der Vertrieb in Deutschland jedoch wieder eingestellt (s. Heft 4, 1984; www.infektio.de, Archiv). In Belgien, Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern war es unter dem Namen NEGABAN im Handel. Es ist das erste und einzige Penicillin mit Stabilität gegenüber ß‑Laktamasen aus gramnegativen Erregern und daher nicht auf die Kombination mit einem ß‑Laktamase-Inhibitor angewiesen. Das antibakterielle Wirkspektrum ist schmal: neben den Enterobacteriaceae umfasst es z. B. H. influenzae und M. catarrhalis. Trotz der hohen strukturellen Verwandtschaft mit Ticarcillin ist Temocillin gegenüber Pseudomonas aeruginosa inaktiv. Auch Staphylokokken, Streptokokken und anaerobe Erreger wie Bacteroides fragilis sind resistent.
Regionale Unterschiede in der Resistenzlage müssen beachtet werden. In vitro zeigte das Penicillin vor einigen Jahren eine gute Aktivität gegen ESBL- und Carbapenemase-produzierende Enterobacteriaceae aus Großbritannien. Gut 50 % der KPC-produzierenden Klebsiella spp. wurden bei 8 mg/l oder weniger gehemmt.1 Aktuelle Ergebnisse aus Griechenland zeigen eine geringere Aktivität: bei 8 mg/l wurden 6,7 % solcher Stämme erfasst, bei 32 mg/l waren es etwas mehr als 80 %.2 Diese Konzentrationen (empfindlich bei MHK ≤ 8 bzw. ≤ 32 mg/l) werden als Grenzwerte bei systemischen Infektionen bzw. Harnwegsinfektionen angesehen.
Temocillin wird intravenös verabreicht. Die Proteinbindung ist konzentrationsabhängig und liegt zwischen 63 % bis 85 %. Die maximalen Konzentrationen im Blutplasma lagen bei 78, 161 und 236 mg/l nach Infusion von 0,5, 1,0 oder 2,0 g. Vorteilhaft ist eine relativ lange Halbwertzeit des Temocillin von etwa fünf Stunden, die eine zweimal tägliche Verabreichung möglich macht. Bis zu 80 % der Dosis werden unverändert renal ausgeschieden. Im Urin werden bei einer Dosierung von zweimal 500 mg täglich Konzentrationen von etwa 500 mg/l gemessen.3
Bei Infektionen mit gramnegativen Erregern – insbesondere bei Harnwegsinfektionen - kann Temocillin angewandt werden, wenn die Sensibilität des Erregers nachgewiesen wurde. Da umfangreiche klinische Studien nicht vorliegen, lässt sich der Stellenwert des Antibiotikums im Vergleich zu anderen Optionen nicht exakt bestimmen.
ZUSAMMENFASSUNG
Temocillin (TEMOPEN) ist in Deutschland wieder im Handel. Es zeichnet sich durch seine Aktivität gegen gramnegative Enterobacteriaceae und gute ß‑Laktamasestabilität aus. Nach intravenöser Verabreichung wird es überwiegend unverändert im Urin ausgeschieden. Es kann bei nachgewiesener Empfindlichkeit des Erregers bei Infektionen der Harnwege und anderen Infektionen angewandt werden. Der Mangel an klinischen Studien erschwert eine genaue Positionierung des Antibiotikums – das wurde bereits 1984 in dieser Zeitschrift kritisiert und gilt heute unverändert. Angesichts der schwierigeren Resistenzlage wären Studien heute sogar noch wichtiger als vor einigen Jahrzehnten.
3: Alexandre K, Fantin B. Pharmacokinetics and Pharmacodynamics of Temocillin. Clin Pharmacokinet. 2018
Mar;57(3):287-296 Review. PubMed