Aktuelle Ergänzungen am Ende des Textes
Neuraminidasen sind auf der Oberfläche von Influenza-Viren lokalisiert. Die enzymatische Aktivität der viralen Enzyme ist entscheidend für die Freisetzung
von neu gebildeten Viruspartikeln aus infizierten Zellen und für die weitere Verbreitung infektiöser Viren im Körper. Seit langem ist versucht worden, Wirkstoffe gegen diese virusspezifischen
Proteine zu entwickeln und mit ihnen eine spezifische antivirale Therapie zu betreiben. Ein erstes Präparat aus dieser Wirkstoffgruppe wurde bereits 1999 eingeführt: Zanamivir (RELENZA) wird jedoch nach oraler Gabe nicht ausreichend
resorbiert und muss in Pulverform per Inhalation zugeführt werden (s. ZCT 1999; 20: 43-45). Oseltamivir (TAMIFLU) kann dagegen oral gegeben werden; die Substanz ist bereits seit mehreren Jahren in
der Schweiz, in den USA, in Kanada und in einigen anderen Ländern auf dem Markt und muss daher als ein international gut charakterisiertes Medikament angesehen werden.
Die IC50 -Werte von Oseltamivir für die Neuraminidase von klinisch isolierter Influenza A lagen
zwischen 0,1 nM und 1,3 nM und von Influenza B bei 2,6 nM; allerdings sind auch höhere Werte für Influenza B, bis zu einem Medianwert von 8,5 nM, publiziert worden. [1]
Unter therapeutischen Gesichtspunkten ist von Bedeutung, dass die antivirale Aktivität der Substanz (ähnlich wie die von Zanamivir) auf Influenza A und B Viren beschränkt ist. Die zahlreichen
möglichen viralen Erreger der häufigeren sogenannten „grippalen Infekte“ werden durch die Neuraminidase-Inhibitoren nicht gehemmt. Die Diagnose „Influenza“ sollte also bei Therapiebeginn möglichst
abgesichert sein. Angesichts mangelnder Möglichkeiten zur eindeutigen Diagnose einer Influenza ist abzusehen, dass ein nicht geringer Anteil von Patienten behandelt wird, obwohl keine rational
begründete Indikation vorliegt. Allerdings ist bei bekannter Influenza-Epidemie die klinische Diagnose bei 70% der Patienten korrekt gestellt worden.
Nach oraler Einnahme von Oseltamivirphosphat (Prodrug) wird Oseltamivir rasch aus dem Magen-Darm-Trakt resorbiert und nahezu vollständig in den aktiven Metaboliten (Oseltamivir-carboxylat) umgewandelt. Die Plasmakonzentrationen von Prodrug und aktivem Metaboliten sind proportional zur Dosis und werden durch gleichzeitige Nahrungsaufnahme nicht beeinflusst.
Das Verteilungsvolumen von Oseltamivircarboxylat beträgt etwa 23 l, was der extrazellulären Körperflüssigkeit entspricht. Die Bindung des Wirkstoffs an Plasmaproteine ist sehr gering (ca. 3 %) und damit zu vernachlässigen. Der Wirkstoff wird unverändert renal mit einer Halbwertzeit von etwa sechs bis zehn Stunden eliminiert, eine Dosisanpassung bei Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz wird daher empfohlen. Bis zu einer Kreatinin-Clearance von 30 ml/min werden zweimal täglich 75 mg zur Therapie der Influenza verabreicht, zur Prophylaxe ist die halbe Dosis ausreichend. Patienten mit einer Kreatinin-Clearance von 10 bis 30 ml/min erhalten zur Therapie nur eine tägliche Dosis, prophylaktisch sollte das Präparat unter diesen Bedingungen nur jeden zweiten Tag eingenommen werden. Bei Patienten mit noch stärker ausgeprägter Niereninsuffizienz (< 10 ml / min) wird Oseltamivir nicht empfohlen.
In umfangreichen klinischen Studien ist die Substanz zur Therapie und Prophylaxe der Influenza eingesetzt worden. Die klinische Wirksamkeit bei diesen Indikationen ist eindeutig belegt. So wurde das Medikament zum Beispiel im Vergleich zu Placebo bei mehr als 700 nicht geimpften Patienten mit den Symptomen einer fieberhaften Influenza in einer randomisierten Studie verabreicht; die Diagnose wurde bei zwei Drittel der Patienten durch Laboruntersuchungen bestätigt. Die Zeitdauer der Erkrankung konnte um etwa 30% verkürzt werden, gleichfalls wurden auch die Krankheitssymptome deutlich vermindert. Entscheidend ist jedoch ein frühzeitiger Beginn der Behandlung innerhalb von 24 – 36 Stunden nach Beginn der Symptomatik. [2, 3]
Umfangreiche, Placebo-kontrollierte Studien belegen auch eine Wirksamkeit des Arzneimittels bei prophylaktischer Gabe. Dies gilt sowohl für die
Postexpositionsprophylaxe als auch für die Prophylaxe während einer Influenzaepidemie in der Bevölkerung. [4,5] So wurde Oseltamivir zum Beispiel an Personen, die in Kontakt mit einem
Influenza-Erkranktem („Indexfall“) standen, innerhalb von zwei Tagen nach Beginn der Symptomatik beim Indexfall, einmal täglich sieben Tage lang verabreicht. Unter diesen Bedingungen senkte
Oseltamivir im Vergleich zu Placebo die Inzidenz der Influenza bei Kontaktpersonen signifikant von 12% auf 1%. Die empfohlene Dosis zur Postexpositions-Prophylaxe der Influenza bei Erwachsenen und
Jugendlichen ab 13 Jahren nach engem Kontakt mit einer infizierten Person beträgt 75 mg Oseltamivir einmal täglich über einen Zeitraum von mindestens sieben Tagen. Das Präparat stellt keinen Ersatz
für eine Grippeschutzimpfung dar, der Schutz vor einer Influenza besteht nur während der Einnahme von Oseltamivir.
Die Verträglichkeit von Oseltamivir ist insgesamt gut, jedoch muss mit Beschwerden von Seiten des
Gastrointestinaltraktes gerechnet werden. Die Daten der klinischen Prüfung zeigen, dass Übelkeit und Erbrechen signifikant häufiger sind, als nach Placebo. Bei zweimal täglicher Gabe von 75 mg kam es
bei 8% der Behandelten zum Erbrechen (Placebo: 3%). Die Beschwerden traten überwiegend nur am ersten oder zweiten Tag der Behandlung auf.
Bisher wurden keine klinisch relevanten Wechselwirkungen von Oseltamivir bei gleichzeitiger Anwendung anderer Medikamente beobachtet. Dies gilt insbesondere für Paracetamol (div. Handelsnamen),
Acetylsalicylsäure (div. Handelsnamen), Cimetidin (div. Handelsnamen) oder mineralische Antazida.
Oseltamivir (TAMIFLU) ist das erste oral wirksame antivirale Mittel aus der Gruppe der
Neuraminidase-Inhibitoren zur Therapie und Prophylaxe der Influenza. Es muss rasch nach Beginn der Symptomatik gegeben werden, dann kann mit deutlicher Symptomverminderung sowie einem signifikant
verkürzten Verlauf der Erkrankung gerechnet werden. Die Verträglichkeit ist gut, gastrointestinale Beschwerden kommen vor.
Einschränkend muss betont werden, dass die antivirale Aktivität sich auf „echte“ Influenza-Viren beschränkt, Erreger eines „grippalen Infektes“ werden nicht beeinflusst. Die jährlich empfohlene
Influenza-Vakzination ist unverändert eine sehr sinnvolle Massnahme; bei ungeimpften Personen mit weitgehend gesicherter Diagnose ist das Präparat aber eine wertvolle Option zur Prophylaxe und
Therapie der Influenza.
1. MCCLELLAN
K, PERRY CM. Oseltamivir:
a review of its use in influenza. Drugs.
2001;61(2):263-83.
2. NICHOLSON
KG, AOKI FY et al. Efficacy
and safety of oseltamivir in treatment of acute influenza: a randomised
controlled trial. Neuraminidase Inhibitor Flu Treatment Investigator Group. Lancet.
2000 May 27;355(9218):1845-50.
3. COUCH
RB. Prevention
and treatment of influenza. N
Engl J Med. 2000 Dec 14;343(24):1778-87.
4. WELLIVER
R, MONTO AS et al. Effectiveness
of oseltamivir
in
preventing influenza in household contacts:
a randomized
controlled trial. JAMA. 2001;285(6):748-54.
5. HAYDEN
FG, ATMAR RL et al. Use
of the selective oral neuraminidase inhibitor oseltamivir to prevent influenza.
N
Engl J Med. 1999 Oct 28;341(18):1336-43.
Ergänzungen (Dezember 2009)
Seit der Erstellung und Veröffentlichung dieses Artikels in der Zeitschrift für Chemotherapie (Heft 6, 2002) sind zahlreiche weitere Arbeiten über
Oseltamivir publiziert worden. Insbesondere soll an dieser Stelle auf die folgenden Arbeiten hingewiesen werden:
1. MOSCONA
A. Neuraminidase inhibitors for influenza. N
Engl J Med. 2005 Sep 29;353(13):1363-73.
2. WARD
P, SMALL I et al. Oseltamivir (Tamiflu) and its potential for use in the event of an influenza pandemic.
J Antimicrob Chemother. 2005 Feb;55 Suppl 1:i5-i21.
3. SHEU TG, DEYDE VM et al. Surveillance for neuraminidase inhibitor resistance among human
influenza A and B viruses circulating worldwide from
2004 to 2008. Antimicrob Agents Chemother. 2008
Sep;52(9):3284-92.
4. SUGAYA N, TAMURA D et al. Comparison of the clinical effectiveness of oseltamivir and
zanamivir against influenza virus infection in
children. Clin Infect Dis. 2008;47:339-45.
5. ISON MG. Influenza in hospitalized adults: gaining
insight into a significant problem.
J Infect Dis. 2009 Aug 15;200(4):485-8.
6. LEE N, CHAN PK et al. Viral loads and duration of
viral shedding in adult patients hospitalized with influenza. J Infect Dis. 2009 Aug 15;200(4):492-500.
7. SHUN-SHIN M, THOMPSON M et al. Neuraminidase
inhibitors for treatment and prophylaxis of influenza
in children: systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ. 2009 Aug 10;339:b3172.
Ergänzungen (Februar 2015)
In einer Metaanalyse wurden neun Placebo-kontrollierte Studien aus den Jahren 1997 bis 2001 zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Oseltamivir (TAMIFLU) bei insgesamt 4328 Patienten mit Influenza ausgewertet. Demnach verkürzt das Arzneimittel die Dauer der Influenza im Median um etwa 25 Stunden oder 20% (97,5 vs. 122,7 Stunden). Oseltamivir-behandelte Patienten erhielten weniger Antibiotika (4,9% vs. 8,7%) und mussten seltener stationär behandelt werden (0,6% vs. 1,7%). Die Verträglichkeit war insgesamt gut. Allerdings trat bei den Patienten, die den Neuraminidase-Inhibitor erhalten hatten, häufiger Erbrechen auf (8,0% vs. 3,3%).
Kelly H, Cowling BJ. Influenza: the rational use of oseltamivir. Lancet. 2015 (ahead of print)