Molnupiravir – ein Nukleosidanalogon zur oralen Therapie der COVID-19-Erkrankung im Frühstadium

Unveränderter Text aus Heft 6, 2021

Ergänzungen am Ende des Textes

 

Nukleosid- und Nukleotidanaloga sind bei vielen Virusinfektionen heute unverzichtbare Therapeutika. Aciclovir bei Herpesenzephalitis, Zidovudin und zahlreiche Nachfolger bei HIV-Infektion oder Sofosbuvir bei Hepatitis C haben die Möglichkeiten der antiviralen Therapie in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Bei COVID-19 ist diese Arzneimittelgruppe bisher nur durch Remdesivir (VEKLURY) vertreten. Das Adenosinanalogon weist jedoch einige Nachteile auf, die einer breiten Verwendung entgegenstehen: Es ist nicht zur oralen Therapie geeignet, besitzt ein nephrotoxisches Potenzial, wodurch die Dosierung limitiert ist, und zeigte bisher in den klinischen Studien nur begrenzte Wirksamkeit.

 

Unter den möglichen Alternativen aus dieser Wirkstoffklasse ist Molnupiravir (LAGEVRIO) von besonderem Interesse. In Großbritannien wurde das Medikament durch die zuständige Behörde MHRA (Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency) bereits am 4. November 2021 zugelassen.1 Eine Zulassung durch die US-amerikanische FDA oder die europäische Behörde EMA stehen noch aus. In der EU wurde ein rolling-review-Verfahren bei der EMA am 25. Oktober 2021 initiiert. Der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA (CHMP) hat am 19. November Empfehlungen zur Anwendung des Arzneimittels abgegeben. Demnach kann Molnupiravir zur oralen Behandlung von Erwachsenen mit COVID-19 verwendet werden, wenn diese keinen zusätzlichen Sauerstoff erhalten und ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf aufweisen. Es soll so bald wie möglich nach der Diagnose und innerhalb von fünf Tagen nach Beginn der Symptome verabreicht werden. Diese Empfehlungen sollen die nationalen Behörden unterstützen. Angesichts steigender Infektionsraten könnten diese eine mögliche Anwendung des Arzneimittels vor der Zulassung in Betracht ziehen, beispielsweise in Notfallsituationen.

 

Antivirale Aktivität

 

Aus dem Prodrug Molnupiravir, einem 5‘-Isobutyrylderivat von N-Hydroxycytidin (NHC), wird das Nukleosidanalogon NHC rasch freigesetzt und intrazellulär zum aktiven Triphosphat (NHC-TP) umgewandelt (Abbildung). Der Einbau des aktiven Metaboliten in die virale RNA als Ersatz für Cytosin oder Uracil erfolgt durch die RNA-Polymerase. Die dabei entstehenden Fehler sind über das gesamte virale Genom verteilt und führen zu einer Hemmung der Virusvermehrung. Am häufigsten handelt es sich um eine C:U oder G:A Transition, die zu einer Veränderung der Aminosäuresequenz in viralen Proteinen, wie der RNA-Polymerase (nsp12), der Exonuklease (nsp14) und des Spikeproteins führen.

Abbildung: Aus Molnupiravir wird das Nukleosidanalogon N-Hydroxycytidin (NHC) freigesetzt und dreifach phosphoryliert (NHC-TP).

 

NHC besitzt in vitro eine hohe Aktivität gegen SARS-CoV-2. In Verozellen wurden IC50-Werte von 0,3 µM bis 2,0 µM (ca. 0,08 bis 0,5 mg/l) bestimmt. Zum Vergleich: für Remdesivir wurde in den gleichen Zellen ein Wert von 0,77 µM ermittelt.1,2,3

 

Pharmakokinetik

 

Etwa 1,5 Stunden nach mehrfacher Einnahme von 800 mg Molnupiravir werden Spitzenkonzentrationen von 2,97 mg NHC/l Plasma erreicht, Talspiegel von 0,03 mg/l wurden nach 12 Stunden gemessen. Der AUC-Wert wurde mit 8,26 mg/l x h berechnet. Die Einnahme des Medikaments zusammen mit einer fetthaltigen Mahlzeit verursachte eine Reduktion der Spitzenkonzentration um etwa ein Drittel, die AUC-Werte wurden jedoch nicht relevant verändert. NHC bindet nicht an Plasmaproteine. Die Eliminationshalbwertzeit von NHC beträgt etwa 3,3 Stunden. Das intrazellulär gebildete Triphosphat wird langsamer mit Halbwertzeiten von drei bis sechs Stunden freigesetzt. Da NHC nicht wesentlich über die Niere eliminiert wird, ist eine Dosisanpassung bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion nicht erforderlich.1,4

 

Klinische Studie bei COVID-19-Patienten

 

Nur selten wird eine klinische Studie gestoppt, weil sich ein deutlicher Vorteil eines geprüften Arzneimittels im Vergleich zu Placebo abzeichnet. Diesen Schritt machte ein unabhängiges Data Monitoring Committee und beendete die Rekrutierung für die Phase-3-Studie MOVe-OUT (NCT04575597) vorzeitig, als sich eine deutliche Überlegenheit von Molnupiravir bei gefährdeten, nicht hospitalisierten erwachsenen Patienten mit leichtem bis mittelschwerem COVID-19 abzeichnete.5 Die Dosierung betrug nach den Ergebnissen einer früheren Studie zweimal täglich 800 mg für fünf Tage. Die Rate der Krankenhauseinweisungen wegen der Coronavirusinfektion wurde von 14 % (53/377) auf 7 % (28/385) gesenkt. Unter den Bedingungen der Studie verstarb kein Patient, der Molnupiravir eingenommen hatte, dagegen verlief in der Placebogruppe die Erkrankung in acht Fällen tödlich.

 

Unerwünschte Wirkungen, Interaktionen

 

Probanden in einer Phase-1-Studie zeigten keine auffälligen unerwünschten Wirkungen, unspezifische Beschwerden waren nicht häufiger als in der Placebogruppe. Einer von 42 Teilnehmern brach die Studie ab. Anlass war ein makulopapulärer Hautausschlag mit Pruritus nach viertägiger Einnahme von zweimal täglich 800 mg.4,6

 

In der Phase-3-Studie traten bei insgesamt 386 Teilnehmern die folgenden unerwünschten Wirkungen auf: Diarrhö (3 %), Übelkeit (2 %), Schwindel und Kopfschmerzen (1 %). Alle Effekte waren leicht bis mittelschwer ausgeprägt. Detailliertere Fragen der Verträglichkeit –insbesondere Fragen nach selten auftretenden unerwünschten Wirkungen – lassen sich bisher nicht abschließend beantworten.1

 

Nach den bisherigen Erfahrungen gibt es keine Interaktionen mit anderen Arzneistoffen. N-Hydroxycytidin ist kein Substrat für Arzneistoff-metabolisierende Cytochrom-Enzyme oder Transportproteine. Mit einer Induktion oder Inhibition dieser Systeme ist aufgrund von in-vitro-Untersuchungen nicht zu rechnen.

 

Tierexperimentelle Untersuchungen gaben keine Hinweise auf genotoxische Wirkungen. In hohen Dosierungen wurden im Experiment jedoch embryo-/ fetotoxische Wirkungen beobachtet. Molnupiravir soll daher nicht während der Schwangerschaft eingenommen werden. Kontrazeptive Maßnahmen sind während der Einnahme und bis zu vier Tage nach der Behandlung notwendig.1

 

ZUSAMMENFASSUNG:

 

Molnupiravir (LAGEVRIO) muss so rasch wie möglich nach Diagnosestellung einer COVID-19-Erkrankung – jedoch spätestens fünf Tage nach Beginn der Symptome – eingenommen werden. Die Dosierung beträgt zweimal täglich 800 mg für fünf Tage. In einer Placebo-kontrollierten Studie konnte mit dem Nukleosidanalogon unter diesen Bedingungen eine deutliche Reduktion der Krankenhauseinweisungen erreicht werden. Im Gegensatz zur Placebogruppe mit acht Todesfällen gab es keinen tödlichen Verlauf bei Personen, die Molnupiravir eingenommen hatten. Nach den bisherigen, recht limitierten, Erfahrungen ist die Verträglichkeit von Molnupiravir gut. In der Schwangerschaft soll Molnupiravir nicht eingenommen werden, da sich im Tierexperiment ein teratogenes Potenzial gezeigt hat. Trotz einiger offener Fragen machen die Möglichkeit der oralen Therapie und die deutliche klinische Wirksamkeit das Medikament zu einem wichtigen Bestandteil im Arsenal zur Verhinderung schwerer Verläufe der Infektion und zur Eindämmung der Pandemie.

 

1. Summary of Product Characteristics (SmPC) Lagevrio (Großbritannien)

 

2. Sheahan TP et al. An orally bioavailable broad-spectrum antiviral inhibits SARS-CoV-2 in human airway epithelial cell cultures and multiple coronaviruses in mice. Sci Transl Med. 2020 Apr 29;12(541):eabb5883

 

3. Kabinger F, Stiller C, Schmitzová J, Dienemann C, Kokic G, Hillen HS, Höbartner C, Cramer P. Mechanism of molnupiravir-induced SARS-CoV-2 mutagenesis. Nat Struct Mol Biol. 2021 Sep;28(9):740-746 Epub 2021 Aug 11.

 

4. Painter WP et al. Human Safety, Tolerability, and Pharmacokinetics of Molnupiravir, a Novel Broad-Spectrum Oral Antiviral Agent with Activity Against SARS-CoV-2. Antimicrob Agents Chemother (accepted manuscript, posted online March 1, 2021)

 

5. Positive Zwischenanalyse der Phase-3-Studie zu Molnupiravir. MSD, Haar, Oktober 2021

 

6. Khoo SH et al. Optimal dose and safety of molnupiravir in patients with early SARS-CoV-2: a Phase I, open-label, dose-escalating, randomized controlled study. J Antimicrob Chemother. 2021 Epub ahead of print.

 

 

Ergänzung (Dezember 2021)

 

MOVe-OUT-Studie publiziert

 

Die Placebo-kontrollierte Phase-3-Studie mit Molnupiravir bei COVID-19-Patienten (MOVe-OUT) wurde am 16. Dezember 2021 im New England Journal of Medicine veröffentlicht. Insgesamt wurden 1433 Teilnehmer innerhalb von fünf Tagen nach Beginn der Symptome mit Molnupiravir oral behandelt. Während in der Placebogruppe 9,7% der Patienten stationär behandelt werden mussten oder verstarben, war dies nach Behandlung mit dem Virostatikum nur bei 6,8% der Fall. Ein Teilnehmer verstarb in der Verumgruppe, in der Placebogruppe waren es neun Patienten. Der Therapieerfolg war damit weniger deutlich, als zunächst  aufgrund der Daten einer Zwischenauswertung angenommen.

 

Bernal AJ et al. Molnupiravir for Oral Treatment of Covid-19 in Nonhospitalized Patients. N Engl J Med (ahead of print, December 16, 2021)

 

Jetzt für den INFEKTIO letter anmelden und regelmäßig per E-Mail Wissenswertes aus Mikrobiologie, Arznei-mittelforschung,Therapie uvm. erhalten.

Informationen für Ärzte und Apotheker zur rationalen Infektionstherapie

Die Zeitschrift für Infektionstherapie (bis 2015: "Zeitschrift für Chemotherapie") erscheint im Jahr 2023 im 44. Jahrgang. Herausgeber und Redaktion sind bemüht, Sie kontinuierlich und aktuell über wichtige Entwicklungen im Bereich der Infektionstherapie zu informieren.

Mitglieder der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Infektionstherapie e.V. erhalten die Zeitschrift kostenlos. » Kontakt

Druckversion | Sitemap
© mhp Verlag GmbH 2023