Unveränderter Text aus Heft 4, 2019
Ergänzungen am Ende des Textes
Bereits in den 1940er Jahren wurde Chlortetrazyklin entdeckt. Das Stoffwechselprodukt von Streptomyces aureofaciens konnte zunächst durch Dehalogenierung zum Tetrazyklin weiterentwickelt werden. Spätere Entwicklungsschritte werden durch die halbsynthetischen Derivate Doxycyclin und Minocyclin markiert. Von diesem leitet sich auch das Tigecyclin (TYGACIL) ab, das seit 2006 verfügbar ist. Die molekulare Grundstruktur der Tetrazykline besteht aus dem charakteristischen Vierringsystem, das namensgebend für diese Gruppe war. Die Möglichkeiten für halbsynthetische Abwandlungen des Naturstoffes sind limitiert. Daher ist es ein Fortschritt, dass seit einigen Jahren neue Derivate auch vollsynthetisch produziert werden können.1
Chemische Struktur
Eravacyclin (XERAVA) ist das erste synthetische Tetrazyklin, das zur Therapie zur Verfügung steht.1,2 Durch gezielte Veränderungen konnte ein Antibiotikum hergestellt werden, das sich einigen Resistenzmechanismen der Erreger widersetzt und dadurch über ein relativ breites antibakterielles Spektrum verfügt. Im Eravacyclin-Molekül wurde ein Fluoratom am Ring D in Position C-7 eingeführt, in C-9-Position befindet sich eine Pyrrolidinacetamido-Seitenkette. Dieser basische Substituent erhöht die antibakterielle Aktivität vor allem im gramnegativen Bereich.
Strukturformel von Eravacyclin (TP-434), einem Fluorcyclin (MM 585,5). Das Antibiotikum besitzt eine ähnliche Struktur wie Tigecyclin; Unterschiede bestehen am Ring D (links): einem Fluoratom anstelle der Dimethylaminogruppe und einem Pyrrolidinacetamido-Substituenten (rot).
Antibakterielle Eigenschaften, Resistenz
Ebenso wie andere Tetrazykline stört auch das neue Fluorcyclin die bakterielle Proteinsynthese durch Bindung an die 16S rRNA in der ribosomalen Untereinheit 30S und hemmt die Verlängerung der Proteinkette durch Blockade der tRNA-Anlagerung. Die in vitro-Aktivität umfasst ein breites Spektrum grampositiver und gramnegativer Erreger, einschließlich Anaerobier; P. aeruginosa ist resistent.3,4,5 Im Vergleich mit Tigecyclin zeigt sich bei den meisten Isolaten eine etwa zwei- bis vierfach höhere Aktivität (Tabelle 1). Vom EUCAST (Europäischer Ausschuss für die Untersuchung auf Antibiotikaempfindlichkeit) wurden die Grenzwerte zur Unterscheidung zwischen sensiblen und resistenten Erregern festgelegt. Demnach sind E. coli-Stämme bis zu einer Konzentration von 0,5 mg/l sensibel, S. aureus–Stämme bis 0,25 mg/l und Enterokokken bis 0,125 mg/l.2
Tabelle 1: Minimale Hemmkonzentrationen (MHK90) von Eravacyclin im Vergleich zu Tigecyclin bei grampositiven und gramnegativen Bakterienarten (mod. nach Zhanel et al., 2016)1
|
Eravacyclin (mg/l) |
Tigecyclin (mg/l) |
Grampositive Erreger |
||
S. aureus (MSSA) |
0,12 |
0,5 |
S. aureus (MRSA) |
0,12 |
0,5 |
S. pneumoniae |
0,015 |
0,06 |
E. faecalis |
0,06 |
0,25 |
E. faecium |
0,06 |
0,25 |
Gramnegative Erreger |
||
A. baumannii |
1,0 |
4,0 |
E. coli |
0,5 |
0,5 |
K. pneumoniae |
1,0 |
2,0 |
N. gonorrhoeae |
0,25 |
0,5 |
P. mirabilis |
2,0 |
16 |
P. vulgaris |
1,0 |
4,0 |
P. aeruginosa |
16 |
32 |
S. maltophilia |
1,0 |
8,0 |
Anaerobier |
||
B. fragilis |
2,0 |
8,0 |
C. difficile |
0,12 |
0,12 |
Resistenz gegen Tetrazykline ist weitverbreitet. Bei grampositiven und gramnegativen Bakterien sind vier verschiedene Mechanismen bekannt, mit denen sich die Erreger vor den Antibiotika schützen. Am häufigsten sind Effluxpumpen und Schutz der Ribosomen durch spezielle Proteine (ribosomal protection proteins, RPPs). Eravacyclin besitzt aufgrund seiner Struktur auch Aktivität gegen Bakterien, bei denen Efflux durch tet(A), tet(B) und tet(K) nachgewiesen wurde oder Ribosomenschutz wie durch tet(M) und tet(Q) kodiert ist. Eravacyclin ist kein Substrat für die MepA-Pumpe in Staphylococcus aureus, die als Resistenzmechanismus für Tigecyclin beschrieben wurde und es wird nicht durch FAD-abhängige Monooxygenasen [tet(X) und tet37] abgebaut, die in gramnegativen Keimen vorkommen.2
Pharmakokinetische Eigenschaften, Interaktionen
Nach oraler Gabe des Antibiotikums wird weniger als ein Drittel der verabreichten Menge resorbiert. Wegen der unzureichenden und variablen Bioverfügbarkeit wird es ausschließlich als Pulver zur Herstellung einer Infusionslösung angeboten.2 Am Ende der 60-minütigen Infusion einer Dosis von 1 mg/kg wurden Konzentrationen von 2,1 mg/l gemessen, die AUC0-12-Werte lagen bei 4,3 mg x h/l und die Eliminationshalbwertzeit betrug neun Stunden. Am Tag 10 der Studie, nach jeweils zwei Infusionen pro Tag im Abstand von 12 Stunden, resultierten leicht abweichende Werte für die maximale Konzentration (1,8 mg/l) und die AUC (6,3 mg x h/l). Der errechnete Wert für die Halbwertzeit war mit 39 Stunden deutlich verlängert.2,6
Eravacyclin wird hauptsächlich durch CYP3A4- und FMO-vermittelte Oxidation des Pyrrolidinrings und durch chemische Epimerisierung an C-4 zu unwirksamen Metaboliten abgebaut. Eravacyclin ist ein Substrat für die Transporter P-gp, OATP1B1 und OATP1B3, nicht aber für BCRP.2 In der Tabelle 2 wurden einige pharmakokinetische Daten zusammengestellt und mit den Ergebnissen von Tigecyclin verglichen. Es muss bedacht werden, dass die Daten nicht aus direkten Vergleichsstudien stammen.1
Tabelle 2: Pharmakokinetische Daten von Eravacyclin und Tigecyclin (mod. Zhanel et al., 2016)1
|
Eravacyclin |
Tigecyclin |
Proteinbindung (%) |
79 - 90 |
71 - 89 |
Verteilungsvolumen (Vss, l/kg) |
3,3 - 4,2 |
7 - 9 |
Halbwertzeit (t½, h) (Einzeldosis) |
22 |
27 |
Halbwertzeit (t½, h) (Mehrfachgabe) |
34 |
42 |
Clearance (CL, l/h) |
13,5 |
23,8 |
Renale Ausscheidung (%) |
16 |
33 |
Bei Patienten mit Leber- oder Nierenfunktionsstörungen oder bei Hämodialyse-Patienten ist keine Dosisanpassung erforderlich. Die gleichzeitige Anwendung des CYP-Induktors Rifampicin erhöhte die Clearance um etwa 50%. Bei gleichzeitiger Anwendung mit starken CYP3A-Induktoren wie Carbamazepin oder Johanniskraut-Präparaten sollte die Eravacyclin-Dosis um etwa 50 % auf 1,5 mg/kg i.v. alle 12 Stunden erhöht werden.2
Klinische Studien
Eravacyclin ist zur Behandlung komplizierter intraabdomineller Infektionen zugelassen. Die empfohlene Dosis beträgt 1 mg/kg Eravacyclin alle 12 Stunden als intravenöse Infusion über etwa 60 Minuten.2 In zwei Doppelblindstudien wurde die Wirksamkeit und Verträglichkeit im Vergleich zu einem Carbapenem untersucht.7 In der INGNITE-1-Studie8 war Ertapenem das Vergleichsantibiotikum, in der INGNITE-4-Studie9 wurde es mit Meropenem verglichen. Bei etwa 30 bzw. 40% der Patienten lag eine komplizierte Appendizitis vor, ein Drittel der Teilnehmer in beiden Studien war älter als 65 Jahre. In den meisten Fällen bestand eine polymikrobielle Infektion, in der Regel handelte es sich um fakultativ pathogene gramnegative Erreger zusammen mit anaeroben Bakterien. In beiden Studien an insgesamt etwa 1000 Patienten konnte die Nichtunterlegenheit des neuen Antibiotikums nachgewiesen werden. Etwa vier Wochen nach Beginn der Behandlung mit Eravacyclin wurden 86,8% der Patienten als geheilt eingestuft, in der Vergleichsgruppe mit Ertapenem waren es 87,6%.8 In der zweiten, ähnlich konzipierten Studie lag die Heilungsrate bei 90,8% im Vergleich zu 91,2% nach Behandlung mit Meropenem.9
In zwei weiteren umfangreichen Doppelblindstudien unter der Bezeichnung IGNITE-2 und -3 wurde Eravacyclin bei Patienten mit komplizierten Harnwegsinfektionen geprüft. Die Dosierung war niedriger (1 x tgl. 1,5 mg/kg), die zum Vergleich eingesetzten Wirkstoffe waren Levofloxacin (1 x tgl. 750 mg) und Ertapenem (1 x tgl. 1,0 g). Die Nichtunterlegenheit von Eravacyclin konnte in diesen Phase-3-Studien nicht nachgewiesen werden. Ein Zulassungsantrag wurde daher für diese Indikationen nicht gestellt. Ob es bei nosokomialer Pneumonie eingesetzt werden kann, muss noch in klinischen Studien untersucht werden.10
Verträglichkeit, Interaktionen, Toxizität
Eravacyclin war in der klinischen Prüfung im Vergleich mit den Carbapenemen gut verträglich. Am häufigsten kam es zu Beschwerden an der Infusionsstelle, wie zum Beispiel Schmerzen, Rötung und Schwellungen (7,7 % vs. 1,9 %), die bei langsamer Infusion geringer ausgeprägt waren und nicht zum Abbruch der Studie führten. Übelkeit (6,5% vs. 0,6%), Erbrechen (3,7 % vs. 2,5 %) und Diarrhö (2,3 % vs. 1,5 %) waren die häufigsten Nebenwirkungen. In beiden Gruppen kam es zum Abbruch der Therapie bei etwa 2 % der Studienteilnehmer.7 Bei Patienten mit bekannter Überempfindlichkeit auf Tetrazykline darf Eravacyclin nicht angewandt werden. Da es – wie andere Tetrazykline – die Zahnentwicklung stört, ist eine Anwendung in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft, sowie bei Kindern bis zu einem Alter von acht Jahren kontraindiziert. Eravacyclin beeinflusste die Fertilität von männlichen Ratten bei klinisch relevanten Expositionen; ob dies für den Menschen bedeutsam ist, kann derzeit nicht beantwortet werden.2
ZUSAMMENFASSUNG:
Mit Eravacyclin (XERAVA) steht ein neues Tetrazyklin zur Behandlung von komplizierten abdominellen Infektionen zur Verfügung. Das vollsynthetische Antibiotikum besitzt ein breites antibakterielles Spektrum, es widersteht mehreren Resistenzmechanismen. Nach intravenöser Infusion der empfohlenen Dosis von 1 mg/kg Körpergewicht sind die Plasmakonzentrationen relativ gering, ein hohes Verteilungsvolumen weist auf die gute Gewebegängigkeit hin. Es wird vorwiegend oxidativ metabolisiert, mit den Fäzes ausgeschieden und nur in geringem Ausmaß renal eliminiert. Potente CYP-Induktoren, wie Rifampicin oder Johanniskrautpräparate, können eine Dosiserhöhung notwendig machen. In zwei umfangreichen Doppelblindstudien war Eravacyclin bei abdominellen Infektionen den zum Vergleich eingesetzten ß-Laktamantibiotika Ertapenem oder Meropenem nicht unterlegen. In zwei weiteren Studien bei Patienten mit komplizierten Harnwegsinfektionen war die neue Substanz im Vergleich zu Levofloxacin und Ertapenem dagegen nicht überzeugend. Die häufigsten unerwünschten Wirkungen nach Infusion von Eravacyclin waren Übelkeit und Erbrechen, sowie lokale Reaktionen an der Infusionsstelle. Insbesondere bei abdominellen Infektionen durch Erreger, die gegen die üblichen Antibiotika resistent sind, stellt das neue Tetrazyklin eine wichtige Alternative dar. Ob es auch bei weiteren Indikationen in Frage kommt, wird man erst nach weiterer klinischer Prüfung beantworten können.
Literatur
1. Zhanel GG et al. Review of Eravacycline, a Novel Fluorocycline Antibacterial Agent. Drugs. 2016 Apr;76(5):567-88 PubMed Abstract
2. XERAVA SmPC, Tetraphase Pharmaceuticals Ireland, 2018 (www.ema.europa.eu) PDF-Datei
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Ergänzungen
August 2022
Eravacylin (XERAVA) in Deutschland verfügbar
Am 1. August 2022 startete die Vermarktung von Eravacyclin (XERAVA) für die Behandlung komplizierter intraabdomineller Infektionen in Deutschland, wie das Pharmaunternehmen Paion AG, Aachen, mitteilte. Das Tetrazyklinderivat wird als „Reserveantibiotikum“ eingestuft.
XERAVA (SmPC) Aktuelle Produktbeschreibung (Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels)