Unveränderter Text aus Heft 5, 2011
Ergänzungen am Ende des Textes
Etwa 180 Millionen Menschen sind weltweit an Hepatitis C erkrankt. Die Immunlage des Patienten
entscheidet, ob die akute Infektion spontan ausheilt oder ob es zu einem chronischen Verlauf kommt, der häufig zu einer Zirrhose oder zum Leberkrebs führt. In den westlichen Ländern ist die
chronische Hepatitis C die häufigste Indikation für eine Lebertransplantation. Das Hepatitis C-Virus (HCV) weist einige Gemeinsamkeiten mit dem humanen Immun-defizienzvirus (HIV) auf, unterscheidet
sich aber in einem wesentlichen Punkt: der Replikationszyklus erfolgt ausschließlich im Zytoplasma, es gibt keine Integration ins Wirtsgenom. Randomisierte klinische Studien haben gezeigt, dass mit
einer Kombinationstherapie aus Ribavirin (REBETOL, COPEGUS) und pegyliertem Interferon-alpha-2a (PEGASYS) oder Interferon-alpha-2b (PEGINTRON) die Erkrankung geheilt werden kann. Patienten, die mit
dem Genotyp 1 infiziert sind, und 48 Wochen behandelt werden, zeigen zu 40 bis 50% eine über mindestens 24 Wochen persistierende Beseitigung des Erregers (svr = sustained virologic response). Bis zu
80% beträgt diese Rate bei den in westlichen Ländern selteneren Infektionen mit den Genotypen 2 oder 3.
Seit etwa 10 Jahren stellt die Kombinationstherapie aus Ribavirin und Interferon die Standardbehandlung dar. Im Gegensatz zu anderen Arzneimitteln, die bei Viruserkrankungen angewandt werden, wirken
Interferon und Ribavirin aber nicht direkt auf virale Strukturen sondern indirekt über eine Beeinflussung des Immunsystems – die klinisch relevanten Wirkmechanismen beider Arzneistoffe sind im Detail
immer noch nicht geklärt.[1]
Das Hepatitis C-Virus enthält einen RNA-Strang von etwa 9600 Nukleotiden. In menschlichen Zellen wird nach dieser Vorlage ein Polyprotein mit 3000 Aminosäuren synthetisiert. Dieses wird proteolytisch in vier strukturelle und sechs nicht-strukturelle (NS) Proteine gespalten. Das Protein NS3/A4 ist eine Serin-Protease (NS3) zusammen mit einem Kofaktor (NSA4). Sie katalysieren die posttranslationale Spaltung der nicht-strukturellen Proteine aus dem Polyprotein. Diese HCV-typischen Enzyme stellen theoretisch eine ideale Zielstruktur für mögliche antiviral wirksame Arzneistoffe dar. Nachdem die klinische Entwicklung des ersten HCV-Protease-Inhibitors wegen kardiotoxischer Wirkungen gestoppt werden musste, steht nun mit Boceprevir (VICTRELIS) erstmals ein HCV NS3 Protease-Inhibitor zur oralen Behandlung von Patienten mit chronischer Hepatitis C zur Verfügung.[1,2] Der neue Wirkstoff wird zusätzlich zu der üblichen Kombination aus Peginterferon und Ribavirin gegeben (vgl. ZCT 2001, Heft 3 sowie ZCT 2003, Heft 4).
Boceprevir bindet an die Aminosäure Serin (Ser139) im aktiven Zentrum der HCV-Protease. In Zellkulturexperimenten wurde die Verminderung der Viren bereits bei nanomolaren Konzentrationen beobachtet. Die Viren können durch Austausch von Aminosäuren im katalytischen Zentrum des Enzyms resistent werden, wie in vitro-Experimente bereits während der präklinischen Entwicklung zeigten. Bedenklich ist dabei insbesondere die Tatsache, dass bei diesen Mutanten häufig Kreuzresistenz zu anderen Virustatika mit gleichem Angriffspunkt besteht, die sich derzeit in klinischer Entwicklung befinden.
Pharmakokinetische Eigenschaften
Das Arzneimittel enthält den Wirkstoff Boceprevir in Form von zwei Diastereomeren zu gleichen Anteilen, von denen nur einer antiviral aktiv ist. Im Plasma verschiebt sich das Verhältnis in Richtung des aktiven Anteils, die Verbindungen liegen dann im Verhältnis 2:1 vor. Die pharmakokinetischen Angaben beziehen sich meist auf die Summe der Diastereomere. Nach oraler Gabe wird die Substanz rasch resorbiert, die Plasmakonzentrationen sind etwa 65% höher, wenn das Arzneimittel zusammen mit Nahrung eingenommen wird. Dies war unabhängig vom Fettgehalt der Mahlzeit. Die absolute Bioverfügbarkeit wurde nicht untersucht. Bei Probanden betrug die Spitzenkonzentration (Cmax) 1,7 mg/l, die Talkonzentration (Cmin) 0,09 mg/l und die AUC wurde mit 5,4 mg x h/l berechnet. Das Verteilungsvolumen lag bei 772 l (gesunde Probanden), die Proteinbindung bei 75%. Boceprevir wird überwiegend durch die Aldoketoreduktase metabolisiert, darüber hinaus wird es durch CYP3A4/5 oxidativ verstoffwechselt und ist ein Inhibitor dieses Cytochroms. Boceprevir wird mit einer Halbwertzeit von etwa 3,4 Stunden überwiegend in metabolisierter Form mit den Fäces eliminiert. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist eine Dosisanpassung nicht notwendig. Eine hepatische Insuffizienz beeinflusst die Kinetik nur geringfügig, so dass auch bei diesen Patienten die üblichen Dosen verordnet werden können.
Klinische Studien
In frühen Phasen der klinischen Prüfung wurde
beobachtet, dass bei suboptimaler Dosierung und ohne die beiden Kombinationspartner Ribavirin und Peginterferon-α resistente Viren entstehen können, so dass in den Phase 3-Studien eine Strategie
entwickelt wurde, mit der sich das Risiko einer Resistenzentwicklung reduzieren lässt. Da mit Ribavirin und Interferon erst nach etwa vier Wochen ein „steady state“ und damit die volle
pharmakologische Wirkung erreicht wird, beginnt die Behandlung mit Boceprevir erst nach einer „lead in“-Phase von vier Wochen, in denen die bisher übliche Kombination verabreicht wird. So wird
vermieden, dass es zu einer „funktionellen Monotherapie“ mit dem Protease-Inhibitor kommt. Danach wird Boceprevir in einer Dosierung von dreimal täglich 800 mg zusätzlich gegeben.
Die Studien wurden bei therapienaiven und vorbehandelten Patienten durchgeführt. Eine Dreierkombination aus Ribavirin, Interferon und Broceprevir war jeweils signifikant besser wirksam als die
Standardbehandlung mit Ribavirin und Interferon allein. Die Behandlungsdauer war abhängig vom virologischen Ansprechen (response-gesteuerte Therapie). Ein frühes virologisches Ansprechen war gegeben,
wenn in den Wochen 8 bis 24 (therapienaive Patienten) oder 8 bis 12 (vorbehandelte Patienten) keine HCV-RNA im Serum nachweisbar war. In den beiden Studien konnten 44% bzw. 46% der Patienten bereits
nach 28 (therapienaive) bzw. 36 Wochen (vorbehandelte) die Behandlung beenden. Von ihnen erreichten 96% bzw.
86% eine Ausheilung.
Verträglichkeit, Interaktionen
In den klinischen Studien waren eine Anämie und Dysgeusie (Geschmacksstörungen) bei den Boceprevir-behandelten Patienten häufiger als in den Vergleichsgruppen. Erythropoetin wurde bei 21% bis 24% der Patienten mit Standardtherapie eingesetzt. Mehr als doppelt so viele Patienten wurden damit behandelt (41% bis 46%), die Boceprevir erhalten hatten.
Insgesamt liegen bisher noch zu wenige Informationen über das Interaktionspotenzial des neuen Arzneimittels vor. Da CYP3A4 durch Boceprevir gehemmt wird, sind Interaktionen mit anderen Arzneimitteln, die über dieses Cytochrom abgebaut werden, aber zu erwarten. Die AUC-Werte einer Einzeldosis (4 mg, oral) von Midazolam (DORMICUM u.a.) steigen zum Beispiel bei gleichzeitiger Gabe von Boceprevir um etwa das fünffache an. Nur relativ geringe Auswirkungen wurden dagegen auf die Konzentrationen von Efavirenz (SUSTIVA) oder Tenofovir (VIREAD) beobachtet.
ZUSAMMENFASSUNG:
Boceprevir (VICTRELIS) hemmt die Protease des Hepatitis C-Virus. Wenn es zusammen mit der bisher üblichen Standardtherapie aus Ribavirin (REBETOL, COPEGUS) und pegyliertem Interferon-α2a (PEGASYS) oder Interferon-α2b (PEGINTRON) verabreicht wird, kann der Erreger signifikant häufiger beseitigt werden und die Therapiedauer kann reduziert werden. Dies belegen Placebo-kontrollierte Studien. Boceprevir wird dreimal täglich in einer Dosierung von 800 mg zusammen mit der Standardtherapie verabreicht. Es wird ausreichend resorbiert, die Halbwertzeit liegt bei drei Stunden, die Ausscheidung erfolgt in Form von Metaboliten mit den Fäces. Boceprevir hemmt CYP3A4. Mit entsprechenden Interaktionen muss gerechnet werden, bisher liegen dazu nur unzureichende Daten vor. Zu den wichtigsten unerwünschten Wirkungen zählen Anämie und Geschmackstörungen.
Ergänzung (2015)
Die Proteasehemmer Telaprevir und Boceprevir werden heute nicht mehr zur Standardtherapie der chronischen Hepatitis C empfohlen.
Empfehlungen der Fachgesellschaft DGVS (2/2015).
Das Arzneimittel VICTRELIS ist nicht mehr im Handel.
Ergänzung (2020)